Für die von Petra Lottje konzipierte Ausstellung im Kunstverein Neukölln haben sich zwei Zeichner*innen mit dem Gerichtswesen im Allgemeinen und mit dem im Kern 1906 fertig gestellten Kriminalgericht Moabit im Speziellen auseinandergesetzt. Das größte Strafgericht Europas ist allein schon als Gebäude beeindruckend. Die Gerichtsarchitektur ist vom Versuch geprägt, qua äußerer Form sowohl erhaben als auch einschüchternd zu wirken. Auf der Tagesordnung stehen hier unter anderem die spektakulären Fälle, die in den Medien große Beachtung finden; die Gerichtsroutine verhandelt jedoch in der Mehrzahl alltägliche Einzelfälle. Die Palette reicht somit von persönlichen, stillen Tragödien bis hin zu aufsehenerregenden Sensationen, die Voyeure anziehen.
Vor Ort haben sich die beiden Künstler*innen intensiv mit der Architektur (Beckmann) und der sozialen Interaktion der hier anzutreffenden Menschen (Lottje) auseinandergesetzt. Dabei ging es ihnen nicht um neutrale Architekturzeichnungen oder gar um die Ergebnisse von Gerichtszeichner*innen. Stattdessen war es das erklärte Ziel, der ganz speziellen Atmosphäre des Gerichtsortes persönlich nahezukommen – und die übergeordneten Mechanismen einzubeziehen.
Obwohl sich Petra Lottje und Matthias Beckmann beide der streng linearen Zeichnung bedienen, ist das Ergebnis ihrer Recherche unterschiedlich: Die Macht der Architektursprache kontrastiert mit der Flüchtigkeit und Austauschbarkeit der Menschen, die temporär, vergänglich erscheinen.
Durch die Wahl von Perspektive und Ausschnitt setzt Matthias Beckmann Akzente, welche die auf den ersten Blick neutral beobachtend wirkenden Zeichnungen zu Dokumenten seines persönlichen und intuitiven Erlebens machen. Er beschreibt die Wirkung des Bauwerks auf sich wie folgt: „Das Kriminalgericht Moabit ist groß und beeindruckend. Vor dem Portal fühle ich mich klein. Eine Allegorie des Rechts mit aufgeschlagenem Gesetzbuch thront rechts oben. Justitia mit verbundenen Augen, Waage, Richtbeil und Handschellen zeigen, was mich erwartet. Hier wird geurteilt über jene, die sich nicht konform verhalten und erwischt werden. Sollte ich angeklagt werden, wäre dieses Gericht genau richtig. Ein kleineres würde mir missfallen. Ich hätte nicht das Gefühl, dass man mich ernst nimmt.“
Petra Lottjes Zeichnungen sind weder narrativen Situationen noch wiedererkennbaren Personen verpflichtet. Sie können als generalisierte, fast zeitlose Archetypen menschlicher Interaktion gelten. Auf der Basis konkreten Erlebens in den Warteräumen, den Fluren und im Gerichtssaal entstanden quasi kondensierte Stimmungsbilder. Zu ihrer Herangehensweise im Kriminalgericht schreibt sie: „Es ist schon erstaunlich, was Menschen erfinden (müssen), um sich gegenseitig in Schach zu halten. Die Beteiligten agieren, interagieren, reagieren aufeinander: Richter, Verteidiger, Staats- und Rechtsanwälte, Gerichtsschreiber, Übersetzer, Kläger, Nebenkläger, Zeugen. Es wird verlesen, gefragt, geantwortet, vorgetragen, übersetzt. Und zugehört, beobachtet, gelogen, eingeschätzt. Ich höre und beobachte und zeichne!“.
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