Unsere konventionelle Zeiteinteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft löst sich im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung zusehends auf. Die menschlich bemessene und erlebte Zeit steht der digitalen Gleichzeitigkeit und Allgegenwart gegenüber. Zeitliche Dimensionen müssen neu definiert werden.
In der altgriechischen Zeitmessung symbolisierte Chronos den Gott der Zeit, der Vergänglichkeit, Kairos war der Gott des günstigen Augenblicks, der durch Achtsamkeit erschlossen wurde. Heute bezeichnet die Quantenphysik den Bereich der Gleichzeitigkeit aller Möglichkeiten, in dem eine Definition erst durch den Messenden erfolgt. Sie eröffnet damit einen Blick in die Welt hinter den Erscheinungen, in die Ewigkeit oder ewige Gegenwart – verborgen in der Flüchtigkeit eines Momentes.
Im Zeitenwandel befindet sich ein Moment, in dem vergangene Werte sich noch nicht vollständig aufgelöst haben, doch zukünftige noch nicht erfahrbar sind. Der Mensch disassoziiert sich von seinen Ideen, während sie an Tragfähigkeit verlieren. Der Augenblick wird das einzig Tragbare. Diese Transformationsprozesse konfrontieren uns mit unseren individuellen und gesellschaftlichen Projektionen auf die uns umgebende Wirklichkeit, die uns vorgehalten werden wie ein Spiegel. Es sind Narrative, die im Augenblick zusammenschmelzen wie Eis in der Sonne.
Der vergängliche Charakter dieser Narrative ist Gegenstand der Arbeit von Eric Meier. Er setzt sich mit formverändernden Prozessen auseinander, insbesondere mit der Transformation Deutschlands nach dem Fall der Mauer. Dabei hinterfragt er Strukturen nach ihrer Lebendigkeit und ihrer Aussage über die Gesellschaft, die sie erschuf.
Er bezieht sich darin auf eine semantische Lücke, den leeren Bereich zwischen Utopie und Dystopie, die gleichermaßen als gedankliche Modelle in Spuren und Ansichten vergangener Wirkungsstätten eingraviert sind. In seinen Werken ist der Mensch zumeist abwesend, doch seine Spuren sprechen Bände. Sie sprechen von gescheiterten Träumen und Existenzen, vom Wandel der Zeit. Den dystopischen Moment sieht er darin als Chance.
Seine gesellschaftskritischen Werke führen dem Betrachter die Endlichkeit von sozialen Strukturen und individuellen Träumen vor Augen. Sie sind wie eine Frage, die sich stellt „Was bleibt?“ und die uns letztlich auf uns selbst, auf diesen Moment, die ewige Gegenwart, zurückwirft.
Hara Piperidous Arbeiten wirken suspendiert in Zeit und Raum. Ihre Bleistiftzeichnungen geben Momentaufnahmen mit Präzision, doch gleichzeitig so schwerelos wieder, daß sie wie ein Hauch einer Erinnerung wirken, ein Traumbild, das sich kurz abzeichnet und vergeht. Der Körper funktioniert wie ein Anker, der die sensorische Erfahrung absorbiert und ihr Bedeutung verleiht. Doch die Szenen bewegen sich im Ephemeren, wie
zwischen Wachen und Schlaf. Sie hinterlassen eine Ahnung eines Bereichs außerhalb unseren Koordinationsachsen von Raum und Zeit, in dem eine durch die Erfahrung geschaffene Bedeutung fehlt.
Hara Piperidous Werke transportieren den Betrachter in eine Zwischensphäre. Sie wirken so leicht, daß sie das Gewicht der Bedeutung in der Schwebe und dem Betrachter die Wahl lassen, ob er sie definiert und damit räumlich und zeitlich lokalisiert. Vergänglichkeit scheint einzufrieren in der Ewigkeit, und es ist dem Betrachter freigestellt, sich für das eine oder andere zu entscheiden.
Kuratiert von Katja Ehrhardt
Organisiert von AthenSYN in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Neukölln
Die Ausstellung findet im Rahmen des WUNDERKAMMER-Programms der Neuköllner Oper Berlin
statt, das Musik, Wissenschaft und Philosophie in Themenabenden miteinander verbindet.
WUNDERKAMMER X: ZEIT.FORMEN
Musikalische Darbietung mit wissenschatlicher Diskussion zum Thema Erfahrungen mit
Zeit und Musik.
6. und 7. September 2023, um 20.00 Uhr, Museum für Kommunikation Berlin, Leipziger Str. 16,
10117 Berlin
MIT : Prof. Dr. Norman Sieroka (Universität Bremen), Dr. Miriam Ruess (Universität Freiburg), Josefine Göhmann (Sopran), Niko Meinhold (Tasteninstrumente u.a.), Hilary Jeffery (Posaune, Alphorn) mit Eigenkompositionen und Musik von Purcell, Händel bis Richard Strauss und Ligeti u.a.
MODERATION Bernhard Glocksin
ENGLISH VERSION
Our conventional measurement of time in past, present and future is currently dissolving in an age of globalization and digitization. The humanly measured and experienced time is opposed to digital simultaneity and omnipresence. Temporal dimension s are open to redefinition.
In ancient Greek mythology, Chronos symbolized the god of time, of transience, Kairos was the god of the favorable occasion, heeded and embraced through mindfulness. Today, quantum physics refers to the area of the simultaneity of all possibilities, in which a definite outcome can only occur through a measuring observer. This hypothesis opens up a glimpse into the world behind the phenomena, into eternity or the eternal present
– hidden in the evanescence of a fleeting moment.
In times of transition, there is a state in which past values have not yet completely dissolved, but what the future holds is not yet apparent. Man disassociates himself from his ideas as they lose viability. Stability can only be found in the present moment. These transformation processes confront us with our individual and social projections onto the reality around us, which are held up to us like a mirror. They are narratives, melting in an instant like ice in the sun.
The ephemeral character of these narratives is the subject of Eric Meier’s work. He deals with form-changing processes, in particular with the transformation of Germany after the fall of the Wall. In doing so, he questions structures in terms of their vitality and what they say about the society that created them.
He refers to a semantic gap, the empty area between utopia and dystopia, both of which are equally engraved as conceptual models in traces and views of monuments of the past. Man is mostly absent in his works, but his traces speak volumes. They speak of failed dreams and lives, of the changing of times. He describes the dystopian moment as an opportunity.
His socio-critical works make the viewer aware of the temporality of social structures and individual dreams. They are like a question asking „What remains?“ which ultimately throws us back on ourselves, on this moment, the eternal present.
Hara Piperidou’s works seem suspended in time and space. Her pencil drawings render snapshots with precision, but at the same time so weightlessly that they seem like a wisp of memory, a dream image that looms briefly and then passes away. The body acts as an anchor, absorbing the sensory experience and giving it meaning. But the scenes move in the ephemeral, as if between waking and sleeping. They leave a glimpse of a
realm outside of our coordinate axes of space and time, lacking experiential meaning.
Hara Piperidou’s works transport the viewer into an space in between. They appear so light that they leave the weight of meaning in abeyance and leave it open to the viewer to define them and thus localize them spatially and temporally. Transience seems to freeze in eternity and the viewer is free to choose one or the other.
Curated by Katja Ehrhardt
Organized by AthenSYN in cooperation with Kunstverein Neukölln
The exhibition takes place as part of the WUNDERKAMMER program of the Neuköllner Oper
Berlin, which combines music, science and philosophy in themed evenings.
WUNDERKAMMER X: TIME.SHAPE
Musical performance with scientific discussion on the subject of exper ience with time
and music.
September 6 and 7, 2023, at 8pm, Museum for Communication Berlin, Leipziger Str. 16,
10117 Berlin
With scientist and philosopher Prof. Dr. Norman Sieroka (University of Bremen), the
cognitive psychologist and dancer Dr. Miriam Rueß (University of Freiburg), the soprano
Josefine Göhmann, the multi-instrumentalist Niko Meinhold and others, looking at
scientific and philosophical concepts about objective and subjective, socially
determined and individual time and trying out possibilities of experiencing and shaping time.
Moderator: Bernhard Glocksin, research and space: Sabrina Rossetto