In diesem Jahr steht das Thema „Landschaft“ im Fokus des Kunstverein Neukölln. Neben dystopischer, partizipativer oder pastoraler Annäherung an das Sujet, steht bei „Major Tom“ die Vogelperspektive von realen, fiktiven und collagierten (Stadt)Landschaften im Zentrum.
Seit jeher sind Menschen vom Blick ins Weltall gefesselt. Spätestens seit den Bildern, die die Apollo XI-Mission im Juni 1969 zur Erde sendete, gehört der Außenblick auf unseren Planeten zu den berührendsten Bildern der Menschheit. David Bowie sang in „Space Oddity“ von der Reise ins Unbekannte, von Einsamkeit, Isolation und der menschlichen Entfaltung – aber auch über die Faszination, die vom Universum ausgeht. In der Bildenden Kunst verhält es sich ähnlich: In der Malerei entstand im 15. Jahrhundert der Blick auf die Welt aus einer göttlichen Perspektive heraus. Technologischer Fortschritt, wie Ballonfahrten und Fotografie, Satellitenaufnahmen, Raumfahrt und digitale Kartographie-Applikationen haben die Draufsicht seitdem immer wieder revolutioniert. Der Betrachtende ist zum allsehenden, beobachtenden Menschen geworden.
Die Formensprache, die aus der Vogelperspektive entsteht, lässt neue Blickwinkel zu, die sowohl Harmonie als auch Dissonanz, Dynamik und Komplexität im urbanen Gefüge widerspiegeln und letztlich zu einer Neubewertung der (Stadt)Landschaft anregen. Dem Blick von oben widmen sich nun die Künstler:innen Christian Pilz, Sibylla Weisweiler, Barbara Wrede und Uta Zaumseil.
- Ohne Titel, 2023, Tusche auf Papier, 21×15 cm
- Ohne Titel, 2017, Bleistift auf Papier, 32×24 cm
- Ohne Titel, 2015, Bleistift auf Papier, 29,7×21 cm
Christian Pilz’ zumeist als Serien angelegte Zeichnungen sind Entwürfe paralleler Welten, die oftmals wie utopische/dystopische Stadtlandschaften anmuten. Urbane Strukturen wachsen turmartig in die Höhe, breiten sich wie Rhizome in alle Richtungen aus oder expandieren im gravitationsfreien Raum. Sie gleichen „Weltmaschinen“, deren Funktion ihre eigene Verdichtung und grenzenlose Erweiterung zu sein scheint. Neuere Arbeiten, die an architektonische Pläne und topografische Karten, futuristische Stadtpläne oder elektronische Schaltkreise erinnern, entstehen nach unterschiedlichen zeichnerischen Konzepten. Sie sind z.B. ausschließlich aus Punkten oder geometrischen Grundelementen, wie Kreisen, Quadraten, Dreiecken oder Kuben aufgebaut, die sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten zusammenfügen und organisch-technoide Strukturen bilden.
- Weisweiler, Reichstag, 140×200 cm
- Weisweiler, Flughafen Tempelhof, 20×28 cm
- Hufeisensiedlung, 20×28 cm
Sibylla Weisweiler zeigt häufig Stadtansichten mit Orten und architektonischen Elementen aus Berlin und Brandenburg, die von der deutsch-deutschen Geschichte erzählen. Diese Darstellungen sind eng mit der symbolischen Verdichtung politischer Entscheidungen und ihren konfliktreichen Folgen verbunden. Ihre Werke sind von der Vogelperspektive, dem sogenannten Bird’s Eye View, inspiriert, die durch Technologien wie Google Earth einen demokratischen, neuen Zugang zu Landschaften und urbanen Räumen eröffnet. In ihren Arbeiten sind die verschiedenen Strukturen stark vom Grad der Vergrößerung abhängig. Mit starkem Zoomen zerfällt das Raster in ein zartes, fließendes Farbenspektrum und die Motive geraten in einen Zustand der Auflösung: Alles ist möglich und noch wurde keine Entscheidung getroffen.
- Wrede, Kreisblatt, 70×50 cm, 2020
- Wrede, Kreisblatt, 70×50 cm, 2020
- Wrede, Kreisblatt, 70×50 cm, 2020
Die Arbeiten von Barbara Wrede zeichnen sich durch ihre große Fähigkeit zur Vereinfachung aus und schaffen mittels einer eindringlichen visuellen Bildsprache, den Betrachtenden in einen Dialog hineinzuziehen. Gleichsam organisch verweben sich Raum und Fläche in ihren Zeichnungen miteinander, signifikant ist mitunter die strukturerzeugende Linie. Wrede arbeitet hauptsächlich im s/w-Bereich und erhält ihre Besonderheit durch den minimalen Einsatz von Farbe. Inspiration zu ihrer Serie der „Kreisblätter“ fand sie einerseits in Luftaufnahmen von Wasserspeichern in der Wüste und andererseits in Kindheitserinnerungen an die heimatliche Tageszeitung samt all ihrer regionalen Äquivalente, die bevorzugt den „Kreis“ im Titel trugen (Kreiszeitung, Kreisblatt, Rundschau). Entstanden sind aus dieser Perspektive fiktive „Kreis“-Landschaften, die sich zwischen Ballungszentren und ländlichen Gegenden ansiedeln könnten.
- Uta Zaumseil, Linol, Foto, Collage, 2021
- Uta Zaumseil, Linol, Foto, Collage, 2021
- Uta Zaumseil, Linol, Foto, Collage, 2024
Uta Zaumseil verwebt fotografisch gewonnene Alltagsmomente, spezifische Beobachtungen und damit verbundene Stimmungen im Kontrast ihres Lebens zwischen Stadt und Land, und übersetzt diese detailreich in das Medium des Hochdrucks, collageartig angeordnet, zugleich aber der fotografischen Perspektive auf die Welt folgend. In ihrer künstlerischen Praxis hat sie einen unverwechselbaren Ausdruck mittels der Techniken des Farbholzschnittes und des Farblinolschnittes gefunden: Die Arbeiten offenbaren sich als malerische Kompositionen, die aufgrund ihrer fließenden Übergänge und diffizilen Nuancen herausstechen. Es entstehen kaleidoskopartige Silhouetten aus Stadtlandschaft, Weltall und amorphen Formen, die in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit die Grenzen zwischen verschiedenen Dimensionen immer mehr verschwimmen lassen.
Kuratiert von Rebekka Liebmann